Forschungsprojekt

Militär, Medien und Öffentlichkeit. Militärskandale und –affären in Frankreich und Russland 1870–1914

Dr. Arndt Weinrich

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DHIP 2011-2017


In den Jahren 1871-1914 sahen sich alle europäischen Armeen mit vielfältigen militärtechnischen, politischen und sozio-kulturellen Herausforderungen konfrontiert: nicht nur galt es – im Kontext des rapide voranschreitenden militärtechnologischen Fortschritts – die operativen Fähigkeiten von Heer und Marine ständig weiterzuentwickeln, um mit den konkurrierenden Militärmächten Schritt halten zu können. Nein, darüber hinaus musste auf gesamtgesellschaftliche Dynamiken (Liberalisierung, Demokratisierung, Säkularisierung) reagiert werden, die die traditionelle Sonderstellung des Militärs im Staat und das korporative Selbstverständnis des Offizierskorps sowie die konstitutiv dazugehörenden Wert-und Normvorstellungen radikal in Frage zu stellen drohten. Eine herausgehobene Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der Frage nach dem Umgang mit der so genannten »öffentlichen Meinung« zu, die sich im Zuge der Liberalisierung der Presse- und Zensurgesetze und dem Eintritt ins Medienzeitalter überall in Europa entwickelte und die zunehmend, und das unabhängig vom politischen Kontext, eine ernst zu nehmende Kontrollfunktion erfüllte.

Leitfragen
- Wie ging das Militär mit der Herausforderung einer kritischen Öffentlichkeit um?
- Welche Strategien im Umgang mit der öffentlichen Meinung entwickelten »Traditionalisten« und »Modernisten«, die es in allen europäischen Armeen gab?
- Welche Wechselwirkungen gab es dabei zwischen Medien und Militär (bzw. einzelnen Militärs), und wie wirkten sich diese auf das Verhältnis von Militär und Gesellschaft bzw. auf die Rolle des Militärs im Staat aus?
- Wie verschoben sich in diesem Zusammenhang Wert- und Normvorstellungen des Offizierskorps?

Frankreich und Russland. Vergleich und Transfer
- Durch die Versuchsanordnung, Republik auf der einen, Autokratie bzw. (schein)konstitutionelle Monarchie auf der anderen Seite, soll der Blick auf systemunabhängige Strukturmerkmale des Verhältnisses von Militär und Öffentlichkeit im Europa des späten 19. Jahrhunderts, frühen 20. Jahrhunderts gelegt werden.
- Kulturgeschichte des europäischen Militarismus
- Mit Abschluss des französisch-russischen Militärbündnisses intensivierte sich der Austausch zwischen den beiden Ländern spürbar, was auch zur verstärkten Rezeption von französischen »modernistischen« bzw. militärreformerischen Ansätzen in Russland führte.
- Diffusion und Zirkulation von Ideen innerhalb der europäischen Militäreliten.

Die Arbeit untersucht vergleichend, wie Militärs lernten, nicht nur mit der kritischen Öffentlichkeit umzugehen, sondern die Presse aktiv als Instrument zur Verfolgung eigener Interessen einzusetzen.

Forschungsgegenstand
Im Mittelpunkt der Studie stehen die zahlreichen Militärskandale und –affären, in deren Verlauf sich im letzten Drittel des 19. und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts das öffentliche Interesse schlaglichtartig auf das Militär konzentrierte und in deren Kontext das Verhältnis von Militär und Gesellschaft austariert und militärische Wert-und Normvorstellungen öffentlich diskutiert wurden. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass die schematische Gegenüberstellung von Militär auf der einen, und kritischer Öffentlichkeit auf der anderen Seite, die viele existierende Darstellungen zu einzelnen Militärskandalen (insb. z.B. zur Dreyfus-Affäre) durchzieht, artifiziell ist und übermäßig vereinfacht: jede das Militär involvierende Affäre war immer auch eine militärinterne Affäre in dem Sinn, dass sie Anlass zu einer kritischen Selbstvergewisserung des Offizierskorps sein konnte und die innerhalb des Offizierskorps bestehenden Spannungen und Divergenzen sichtbar machte. Im Rahmen des Projektes wird zwischen drei Kategorien von Skandalen bzw. Affären unterschieden, die hinsichtlich ihrer Auswirkungen untersucht werden:

1. Die politische Affäre: Boulanger und Skobelev
Mit Georges Boulanger (1837-1891) und Michail Dmitrievitch Skobelev (1843-1882) betraten in den 1870er/1880er Jahren zwei Generäle die politische Bühne, deren Popularität sich, neben den jedenfalls in Skobelevs Fall unbestreitbaren militärischen Erfolgen im russisch-türkischen Krieg von 1875-77, ganz maßgeblich auf die positive Berichterstattung in der Presse stützte und aus beiden Hoffnungsträger für einen neuen politischen Kurs werden ließ. Beide ließen die Presse nicht nur gewähren, sondern bemühten sich nach Kräften, die mediale Aufmerksamkeit für ihre Person zu alimentieren, indem sie in der Öffentlichkeit auftraten, Zeitungsartikel lancierten oder inspirierten und sich überhaupt Journalisten gegenüber zugänglich zeigten. Sie stehen damit exemplarisch für einen Lernprozess im Umgang mit der öffentlichen Meinung, in dessen Verlauf Offiziere erkennen, dass ein geschickter Umgang mit der Presse ihnen erlaubt, eine eigene (politische) Agenda zu verfolgen und  dass der Schutz der »öffentlichen Meinung« ihnen Spielräume verschafft, sich gegen die militärische bzw. zivile Führung zu positionieren.

2. Der Skandal der Niederlage
Krieg war im Kontext der sich im späten 19./frühen 20. Jahrhundert entwickelnden Mediengesellschaften ganz zweifellos dasjenige Szenario, in dem sich die Aufmerksamkeitsökonomie der Öffentlichkeit am deutlichsten zugunsten des Militärs verschob. Besonders aussagekräftig für das Verhältnis von Militär und Öffentlichkeit war in diesem Zusammenhang der Umgang mit Niederlagen: die öffentliche Fahndung nach den Ursachen militärischer Fehlschläge (z.B. nach dem deutsch-französischen Krieg und dem russisch-japanischen Krieg) und die massive Kritik an den Kriegsvorbereitungen und der militärischen Führung stellten insofern eine besonders große Herausforderung für das Selbstverständnis der Militäreliten dar, als die »öffentliche Meinung« in diesem Kontext die fachliche Kompetenz des Militärs in Zweifel zog, kriegsgerichtliche Untersuchungen forderte und durchsetzte (Prozess Bazaine in Frankreich, Prozesse gegen Stessel, Nebogatov und Rozhestvenskj in Russland) und den Anspruch erhob, die nationale Verteidigung nicht den Militärs zu überlassen. Die öffentliche Aufarbeitung militärischer Fehlschläge gab darüber hinaus in der Regel jüngeren, reformorientierten Offizieren ein Forum, das sie nutzten, um ihre Vorstellungen und Vorschläge unter Umgehung des Dienstwegs in die Streitkräfte hinein zu tragen. Die Art und Weise, wie sie gezielt die Öffentlichkeit suchten, belegt deutlich, in welchem Maße Teile der russischen und französischen Militäreliten sich zunehmend und auch gegen das militärische Reglement als Akteure der öffentlichen Meinung verstanden.

3. Skandalisierung von Gewaltexzessen und Militärwillkür
Nichts schadete dem Ansehen des Militärs in der Öffentlichkeit so sehr wie Akte von Militärwillkür und Gewaltexzesse im Zuge der Wiederherstellung bzw. Erhaltung der inneren Ordnung, mit der das Militär, in Frankreich wie in Russland, betraut war. Der massive Gewalteinsatz u.a. bei der Repression der Pariser Commune (1871) oder im Kontext der russischen Revolution von 1905 bzw. die Fusillade de Fourmies (1891) und der Lenskij Rastrel (1912) ließen die Armee nicht als Verkörperung der Nation in Waffen, sondern als innenpolitisches Repressionsinstrument erscheinen. Und Skandale wie die Dreyfus-Affäre, die Aernoult-Rousset-Affäre oder die Kovalev-Affäre schienen eindringlich zu belegen, dass die Armee nur sehr bedingt gewillt war, sich ziviler Kontrolle zu unterwerfen. Die Skandalisierung des Einsatzes militärischer Gewalt im Inneren und die öffentliche Empörung über Militärwillkür zeigen bei allen Unterschieden zwischen dem russischen und dem französischen Fall, wie sich Toleranzgrenzen verschoben und militärische Normverletzungen zunehmend schärfer sanktioniert wurden.