25.05.2022

Online und vor Ort: Michel de Certeau – Werk und Rezeption (2)

Prof. Andrés Freijomil (Buenos Aires, Gast der École des Hautes Études en Sciences Sociales) kommentiert das Werk Michel de Certeaus und prüft es auf seine Aktualität.

  • Vortrag Frühe Neuzeit 20. und 21. Jahrhundert
  • 09:00 Uhr (25.05.) - 13:00 Uhr (25.05.)
  • DHIP

Am 18. und 25. Mai finden vier Vorträge von Prof. Andrés Freijomil (Buenos Aires) über Michel de Certeau am DHIP statt. Vorträge auf Französisch.

Am 18. Mai:

1. Ist Michel de Certeau zu einem Erinnerungsort geworden? Rezeption und Gestaltung einer »Meistererzählung« 

2. Wie besiegt man Dämonen? Diktaturen, Besessenheit und Theologie nach Michel de Certeau

Am 25. Mai:

3. Deterritorialisieren des religiösen Gegenstands. Michel de Certeau zwischen Sozialgeschichte und Geschichte des Spirituellen

4. Ein Weichensteller der »nouvelle histoire«. Michel de Certeau und die Erfindung der Geschichtsschreibung

 

Anmeldung für eine Teilnahme vor Ort: aschirrmeister@dhi-paris.fr
Anmeldung für eine Online Teilnahme am 25. Mai: Zoom

 

3. Deterritorialisieren des religiösen Gegenstands. Michel de Certeau zwischen Sozialgeschichte und Geschichte des Spirituellen

Wie werden historiographische Spezialisierungsfelder produziert? Wie kann man die Schnittmenge zwischen der institutionellen Tribalisierung und der epistemologischen Reichweite der Disziplinen in dem Moment wahrnehmen und nachzeichnen, in dem sie ihre Brüche markieren? Dies waren die Herausforderungen, die Michel de Certeau in den späten 1960er Jahren in Betracht zog, um die Religion aus dem großen hegemonialen Ozean, den die Sozialgeschichte damals darstellte, zu »deterritorialisieren«. Um dies zu erreichen, stützte sich Certeau auf einen Diskurs, der den empirischen Vorbehalt der sogenannten Geschichte des Spirituellen, den er ab den 1950er Jahren suchte, mit einem epistemologischen Instrumentarium aus den Geisteswissenschaften verband. Was war das wirklich Neue an einem solchen Projekt? Um diese Frage zu beantworten, schlagen wir in dieser dritten Sitzung vor, mit seinem Artikel »L’histoire religieuse du XVIIe siècle. Problèmes de méthodes« zu beginnen, der erstmals 1969 in der Zeitschrift »Recherches de Science religieuse« und dann 1975 als Kapitel in »L’Écriture de l’histoire« veröffentlicht wurde, allerdings unter einem neuen Titel: »L’inversion du pensable. L’histoire religieuse du XVIIe siècle« (nicht in der deutschen Ausgabe enthalten). Es handelt sich um einen Text, der sich als untrennbar mit den Fragen verbunden erweist, wie man eine historische Epistemologie innerhalb mehrerer spezifischer Interpretationsgemeinschaften (sei es die der Zeitschrift oder die des Buches) konzipiert, wie man ein Schreibregister für jede dieser Gemeinschaften herstellt und wie man unterschiedliche Leser formt. Gerade diese längere Zeit zwischen den beiden Veröffentlichungen markiert den entscheidenden Moment zur Begründung einer zunehmend eigenständigen Religionsgeschichtsschreibung, für die Michel de Certeau zu einer ebenso notwendigen wie unterschätzten Figur geworden ist.

Diskutant: Claude Langlois (EPHE)

 

4. Ein Weichensteller der »nouvelle histoire«. Michel de Certeau und die Erfindung der Geschichtsschreibung

Was versteht man unter »Historiographie«? Handelt es sich dabei lediglich um eine »Geschichte der Geschichte« oder muss sie die epistemologischen Verfahren des Historikers offenlegen? Als Michel de Certeau 1970 darauf hinwies, dass jeder historische Text Geschichtsschreibung ist und dass es der Tod des anderen ist, der die Geburt des Historikers definiert, erwachten die alten positivistischen Gespenster der Profession, die lange Zeit umsichtig verborgen geblieben waren. Diese letzte Sitzung wird daher der misstrauischen Rezeption von Certeaus Konzept von »Historiographie« anhand einer Reihe von Arbeiten aus drei verschiedenen Zeitpunkten nachgehen. Wir beginnen erneut im Jahr 1970 mit einer Reihe von Definitionen, die Certeau in einer Debatte mit Pierre Nora und Raoul Girardet unter dem Titel »Histoire et structure« vorlegte, die vom Centre Catholique des Intellectuels Français organisiert und in der Zeitschrift »Recherches et Débats« veröffentlicht wurde. Zweitens werden wir den Text »Histoire et mystique« (1972) untersuchen, in dem Michel de Certeau zum ersten Mal die epistemologischen Postulate der Geschichte in Bezug auf die Idee der Spiritualität skizziert. Anschließend bieten wir eine Panoramaperspektive auf »L’Absent de l'histoire« (1973), ein Werk, das sich auch als informelle Poetik über den Akt des Lesens und den Aufbau von Sammlungen versteht, und in dem Certeau auf völlig neue Weise (die auch später einzigartig bleiben wird) erklärt, wie er die Kunst des Zusammenstellens von Texten und den Aufbau eines Buches, das in diesem Fall fast ausschließlich aus Rezensionen historischer Werke besteht, konzipiert hat. Zuletzt werden wir eine Lesart von »L’Écriture de l’histoire« (1975) vorstellen, die auf seine materiellen Produktionsbedingungen, seine Rezeption in Frankreich und im Ausland zur Zeit seines Erscheinens und auf die Art und Weise eingeht, wie Michel de Certeau dieses Buch auch zur Konstruktion seines intellektuellen Profils im öffentlichen Raum nutzte,.

Diskutant: Roger Chartier (Collège de France)

Bildnachweis: IHA.