Identität, Identifizierung und Bürokratisierung im subsaharischen Afrika (19.–21. Jh.). Macht, Materialität, Subjektivierung
Das Forschungsprojekt wurde im Oktober 2018 erfolgreich abgeschlossen.
Leitung:
Dr. Séverine Awenengo Dalberto (CNRS/IMAF)
Mitglieder:
Dr. Johara Berriane (Berlin/Rabat)
Dr. Amadou Dramé (UCAD)
Kelma Manatouma (Paris Ouest)
Bintou Mbaye Dieng (UCAD)
Das von Dr. Séverine Awenengo Dalberto koordinierte Projekt ist Teil der transnationalen Forschungsgruppe zum Thema »Die Bürokratisierung afrikanischer Gesellschaften«.
Bei der Ausbildung der europäischen Staaten waren die bürokratische Identitätsfeststellung und die Etablierung von Identitätsnachweisen wesentliche Instrumente der soziopolitischen Kontrolle, der Machtzentralisierung und der Institutionalisierung der Nation. Obwohl die Verwaltung des kolonialen und postkolonialen Afrika derselben Logik unterlag, hat sich doch die Historiographie Afrikas für dieses Forschungsfeld bisher nur wenig interessiert, wenn man von anregenden Ausnahmen wie den Arbeiten Keith Breckenridges über Südafrika absieht. Die Ausweitung der schriftbasierten Gouvernementalität während der Entwicklung der europäischen Imperien seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts legt es indes nahe, die Einrichtung dokumentarisch-materieller Dispositive der Identifizierung im subsaharischen Afrika als zentrale Frage anzugehen. Der Anspruch dieses Forschungsprogrammes ist es, einen – bescheidenen – Teil dieser Geschichte der Beziehungen zwischen Identifizierung, Bürokratisierung, Staatsaufbau und der Formierung bürgerschaftlichen Bewusstseins (citoyenneté) beizutragen. Wie haben die Identifizierungsdispositive – vermittels der Praktiken und Gebräuche, welche die Identifikationsdokumente hervorgebracht haben – sowohl den Zugriff auf die Gesellschaften und Individuen als auch die Entstehung neuer Subjektivitäten ermöglicht? Dieses Projekt geht über eine Geschichte der bürokratischen Überwachung und der »Einschreibung« (encartement) der Untertanen bzw. Bürger durch die Machthaber hinaus und versucht zudem, die Zeiträume und (mehr oder weniger außerordentlichen) Praktiken der Eingliederung afrikanischer Gesellschaften in die Welt der Bürokratie zu erfassen.
Die Bürokratisierung von Identitäten, Identifikationsdokumenten und ihrer Verwendungen durch die Machthaber
Die Geschichtsschreibung zu Afrika hat gezeigt, dass sich die Kolonialreiche lange Zeit mit der weitreichenden Unsichtbarkeit ihrer Untertanen abfanden und eine »Eingeborenenpolitik« entwickelten, welche auf die Herrschaft über Kollektive und Gemeinschaften abzielte, und nicht über Individuen. Trotzdem enthalten die Archive seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von Identifizierungsdokumenten, die von den Kolonialbehörden ausgestellt wurden. Das Forschungsprogramm untersucht, wie diese Techniken und Dokumente etabliert und in welchen Zeiträumen und Verfahren diese verallgemeinert und zentralisiert wurden. Damit versucht es nichts anderes als eine Neubewertung und Periodisierung des Gegensatzes Gemeinschaft vs. Individuum bzw. Untertan vs. Bürger, eines Hauptparadigmas der Forschung zur kolonialen Gouvernementalität. Dieser Programmzweig reicht bis in die Gegenwart: Er will die Übertragung kolonialer Dispositive auf die unabhängigen Staaten untersuchen sowie die Kontinuitäten und die Brüche in diesem (theoretischen) Übergang von der imperialen Staatsangehörigkeit zur nationalen Staatsbürgerschaft empirisch verstehen.
Eine Geschichtssoziologie der Beziehungen zur »Welt der Papiere«
Das Programm untersucht ferner die Vielfalt der Identifizierungsdokumente sowie der Bürokratien, die Individuen registrieren und deren Identität bescheinigen: so die Verwaltungstätigkeit von Privaten und Kaufleuten, von Wirtschaftsverbänden und religiösen Gruppierungen. Deren Verschiedenartigkeit liegt der Konkurrenzsituation zugrunde, welche die Staaten als einzige Aussteller operativer Identitäten in Frage stellt. Sie regt auch an, über die Verknüpfung der offiziellen Identitätsregister mit anderen Nachweisformen nachzudenken und die Verbreitung bürokratischer Vorstellungswelten, Traditionen und Ästhetiken in afrikanischen Gesellschaften zu untersuchen. Schließlich befördert das Programm Analysen des sozialen und politischen Einsatzes von Papieren sowie des Verhältnisses zwischen persönlicher Identität, sozialer Identität und offizieller Identität. Die Studien werden also die Komplexität der Beziehungen erhellen, welche die Individuen – je nach Alphabetisierungsniveau, gesellschaftlichem Status, Geschlecht etc. – zu diesen Dokumenten und Institutionen unterhalten haben und unterhalten. In der Tat geht es um die Untersuchung sowohl der Verbindungen zwischen Materialität, Schrift und Subjektivität als auch der Individualisierungsprozesse, die diese Verbindungen einleiten.
Assoziierte Wissenschaftler:
Prof. Dr. Ibrahima Thioub, Universität Cheikh Anta Dio Dakar
Prof. Dr. Alfred Inis Ndiaye, Universität Cheikh Anta Dio Dakar
Ansprechpartner am DHIP:
Prof. Dr. Thomas Maissen