Forschungsprojekt

Rituals of the Modern State. The Case of Torture in Liberal Democracies

Anne Kwaschik

2016–2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DHIP

(Stand: 2017, diese Seite wird nicht mehr aktualisiert.)


Darf ein Polizeibeamter einen mutmaßlichen Terroristen foltern, um das Leben vieler Menschen zu retten – diskutierte die Bundesrepublik im Jahr 2002. Anlass war die Entführung des Frankfurter Bankierssohns Jakob Metzler. »Würden Sie es tun?« – hatte Niklas Luhmann schon 1993 in seiner Heidelberger Universitätsrede gefragt. Dreißig Jahre nach der Debatte um die Haftbedingungen der RAF und den Thesen Ernst Albrechts wurde die Diskussion um das Folterverbot neu entfacht. Im Zeichen des »War on Terror« stand die Notwendigkeit »unverzichtbarer Normen« für moderne Demokratien auf der gesellschaftspolitischen Agenda.
Andere Staaten Westeuropas, wie Großbritannien und Frankreich, aber ebenso die Niederlande, hatten im Zeichen der Dekolonisierungskriege und in der Auseinandersetzung mit ethnischem Separatismus bereits seit den 1940er Jahren Folter-Debatten in grundsätzlicher Bedeutung hinter sich. Durch den Revisionsantrag Irlands beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben diese nun erneut Brisanz erhalten.

Die Symbolik des Anti-Folter-Konsens
Angesichts dieser Aktualität wendet sich das Forschungsprojekt dem historischen Verhältnis von Demokratie und Folter zu. Es geht davon aus, dass die Überwindung der Folter bis zu den Attentaten von 9/11 zu den zentralen Bestandteilen des normativen Selbstverständnisses moderner Rechtsstaaten gehörte. Ihre Abschaffung galt als Konsequenz der Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Individuum in der Aufklärung. In dieser Perspektive zeichnen sich die Jahrhunderte bis zum Diskurs von der »Wiederkehr der Folter« in der Tat auf den ersten Blick durch einen gesellschaftlichen und rechtlichen Anti-Folter-Konsens aus. Schließlich formierten sich bereits im frühen 19. Jahrhundert die Befürworter der Folter international als »Diskursverlierer«, und nach 1848 waren kaum noch positive Plädoyers für eine Nutzung der Folter zu verzeichnen. (Koch, 2011)


Inwieweit darf die Freiheit des Individuums begrenzt werden, um die Sicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten?

Auf den zweiten Blick jedoch zeigt sich, dass die Rede von der »Wiederkehr der Folter« im 21. Jahrhundert selbst das Ergebnis dieser Diskurse ist. Eine historische Analyse muss diese historischen Semantiken und Symbolformen zur ihrem Ausgangspunkt nehmen. Zum einen gab es auch nach der Abschaffung der Folter in Westeuropa kaum einen Staat, in dem nicht wenigstens der Folter verwandte Verhörmethoden angewandt wurden bzw. diese durch andere Sicherheitsdispositive substituiert wurde. Dies verlagert die Analyse nicht nur auf Momente der »Relegitimierung«, sondern auch auf Zäsuren in der Geschichte der Staatsgewalt. (Reinhard, 2003) Zum anderen wurde der Anti-Folter-Konsens während des 19. Jahrhunderts durch Popularisierungs- und Medialisierungsprozesse komplementiert (Kesper-Biermann, 2011 ff.), die zur Verfestigung der normativen Alteritätsdiskurse führten.

Narrative moderner Staatlichkeit
Das Forschungsprojekt analysiert im Anschluss an eine bereits veröffentlichen Problemskizze zentrale Folter-Debatten in Westeuropa seit den 1940er Jahren (Kwaschik, 2013). Es zeichnet, davon ins 19. Jahrhundert ausgreifend, Konfliktsituationen in der Auseinandersetzung mit Terrorismus und Kolonialismus nach. Mit der gewählten Fragestellung verfolgt das Projekt keinen reinen rechtshistorischen oder anthropologischen Ansatz. Vielmehr versteht es sich als Beitrag zu einer Konfliktgeschichte moderner Demokratien und ihrer Selbstthematisierung. Es ist angelegt als ein Beitrag zur Historisierung von Gewalt als politischer Kommunikation einerseits und andererseits als Problematisierung der »Erzeugung moderner Staatlichkeit«, in der Erweiterung der Kategorien von »Staatlichkeit als einer politischen Form« und »Staatlichkeit als einer Form effizienter sozialer Repräsentation«. (Rosanvallon)