Neueste und Zeitgeschichte

Forschungsprojekt

Die Bande der Demokratie: Die emotionale Verbundenheit zwischen den europäischen Nationen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs (1939–1940)


Das Forschungsprojekt geht davon aus, dass zwischen den demokratischen Öffentlichkeiten Europas eine emotionale Verbindung bestand, als diese zu Beginn des Zweiten Weltkriegs unter starkem innerem und äußerem Druck standen. Mithilfe einer Analyse transnationaler Interaktionen wird untersucht, ob und in welchem Ausmaß die europäischen Demokratien an der Schwelle zu den 1940er Jahren ein System geteilter Vorstellungen bildeten. So trägt das Projekt zu einem besseren Verständnis des politischen und kulturellen Klimas in Europa im 20. Jahrhundert bei.

Die Liste der demokratischen Länder im Sommer 1939 war im Vergleich zur Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg erheblich geschrumpft. Deutschland, Spanien und Italien waren faschistisch geworden und viele der 1918/1919 gegründeten Staaten hatten sich in autoritäre Regime verwandelt. Einige Länder – Österreich und die Tschechoslowakei – existierten nicht mehr. Darüber hinaus war das politische Klima in den verbliebenen Demokratien aufgrund autoritärer Versuchungen von rechts oder links besonders angespannt. Dies führte zu einer Nervosität aller politischen Kräfte. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre forderte das Erstarken totalitärer Regime (Deutschland, UdSSR, Italien) auf der internationalen Bühne die Demokratien heraus, deren Zusammenarbeit unter anderem durch den amerikanischen Isolationismus, die Beschwichtigungspolitik Großbritanniens und die Aufgabe der Tschechoslowakei in den Jahren 1938 und 1939 erschwert wurde.

Nach dem deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt erhöhte der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 weiter den Druck auf die verbliebenen Demokratien. Großbritannien und Frankreich erklärten Deutschland wenige Tage später den Krieg. Als weitere Folge des Pakts zwischen NS-Deutschland und der UdSSR wurde Finnland im November 1939 von Letzterer angegriffen und war bis März 1940 in den Winterkrieg gegen die UdSSR verwickelt. Ab dem 9. April besetzte die Wehrmacht Dänemark und Norwegen. Am 10. Mai 1940 befahl Hitler seinen Armeen den Angriff auf Frankreich und verletzte die Neutralität von Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Damit beendete Deutschland den Sitzkrieg durch die Offensiven an der Westfront.

Ausgehend vo(m) [...] hochgradig konfliktträchtigen sozio-politischen Kontext [des Zweiten Weltkriegs] untersucht dieses Forschungsprojekt, ob die Menschen in ausgewählten westeuropäischen Demokratien [...] ein Gefühl der Zusammengehörigkeit empfanden, das auf der diesen Ländern gemeinsamen, aber bedrohten Form des politischen Systems, der Demokratie, beruhte.

Ausgehend von dem oben beschriebenen, hochgradig konfliktträchtigen sozio-politischen Kontext untersucht dieses Forschungsprojekt, ob die Menschen in ausgewählten westeuropäischen Demokratien (Belgien, Frankreich, Luxemburg, Schweiz und Großbritannien) ein Gefühl der Zusammengehörigkeit empfanden, das auf der diesen Ländern gemeinsamen, aber bedrohten Form des politischen Systems, der Demokratie, beruhte.

Die Reaktionen in Europas demokratischen Öffentlichkeiten auf die Aggressionen der totalitären Mächte in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs überkreuzend und vergleichend zu untersuchen, ist ein Novum und liefert einen historiografischen Beitrag, um den Eintritt der Europäer in den Konflikt besser zu verstehen. Denn wie kürzlich die Historikerin E. Du Réau betont hat: Obwohl dieser Krieg einen Bruch in der europäischen Geschichte darstellte, sind die Kenntnisse über die öffentliche Meinung zu Beginn des Konflikts nach wie vor gering. Ein Grund für diese Forschungslücke ist sicherlich der in den 1950er und 1960er Jahren vorherrschende Almond-Lippmann-Konsens, wonach die Untersuchung der öffentlichen Meinung in Bezug auf internationale Beziehungen irrelevant sei. Dieser Ansatz erklärt wichtige Lücken im Verständnis des Zweiten Weltkriegs. Zwar wird die öffentliche Meinung inzwischen stärker berücksichtigt und seit den 1990er Jahren wurden auch transnationale Ansätze entwickelt, doch hat sich das Interesse der Forschenden auf neuere Ereignisse wie den Kalten Krieg oder andere Themen wie das Alltagsleben während des Krieges verlagert.

Für das Projekt wird das Konzept der »emotionalen Gemeinschaft« von B. Rosenwein mit einem transnationalen Ansatz kombiniert. So werden zum einen die Konturen der unterschiedlichen emotionalen Gemeinschaften im Zusammenhang mit Angriffen auf verschiedene Demokratien erfasst. Zum anderen will das Projekt herausfinden, ob und inwiefern die emotionalen Regime der demokratischen Länder Europas miteinander vernetzt waren. Dafür werden neben den Vorstellungen und dem Selbstverständnis der Akteure auch ihre Idealvorstellungen und ihr »Erwartungshorizont« (R. Koselleck) untersucht. Indem die argumentative Bezugnahme auf gemeinsame demokratische Werte untersucht wird, kann auch die Entwicklung der Positionen gegenüber der kolonialen Frage genauer als bisher analysiert werden, da der Zweite Weltkrieg die Gesellschaften in brutaler Weise mit der imperialen Politik der totalitären Mächte Europas konfrontierte.

Bildnachweis: Buchcover André Adorjan, La Finlande, rempart de l’Europe, Paris 1940.