Neueste und Zeitgeschichte

Forschungsprojekt

Die Moral der Ökonomie. Moralische Normen im französischen Kapitalismus am Übergang zum 20. Jahrhundert

Portrait Jürgen Finger

Abteilungsleiter Neueste und Zeitgeschichte

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Blog Moral Economy


Was ist ökonomische Moral und wie schreibt man als Historiker ein Buch über dieses Thema? An Fallstudien aus der französischen Wirtschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts testet dieses Projekt Moral als analytischen Begriff. Damit leistet es sowohl einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Ökonomischen als auch zu einer Moralgeschichte der Moderne.

Statt medial verstärkter Skandalisierung stehen alltägliche Formen ökonomischen Handelns und (Fehl-)Verhaltens im Zentrum, die freilich im Einzelfall durchaus skandalöses Potenzial entwickeln konnten. So kommen in einzelnen der vier untersuchten Fallstudien auch Momente der moral panic (S. Cohen) in den Blick. Doch interessiert an der kapitalistischen Ökonomie der Schulden, an deren kolonialen Spezifika, am Zusammenbruch der Banque de l’Union générale und am grauen Finanzmarkt vielmehr die Geräuschlosigkeit, mit der im Alltag ökonomisches Handeln reguliert wurde, wobei informelle und formelle Normen regelmäßig ineinandergriffen und sich gegenseitig stützten.

[...] (An) der kapitalistischen Ökonomie der Schulden, an deren kolonialen Spezifika, am Zusammenbruch der Banque de l’Union générale und am grauen Finanzmarkt (interessiert) [...] die Geräuschlosigkeit, mit der im Alltag ökonomisches Handeln reguliert wurde, wobei informelle und formelle Normen regelmäßig ineinandergriffen und sich gegenseitig stützten.

Der mikrohistorische Zugriff auf Fallstudien und konkrete Handlungssituationen erlaubt eine Analyse mittlerer Reichweite in einem Untersuchungszeitraum, in dem kapitalistische Praktiken sich endgültig als Standardverfahren (W. Plumpe) der Ökonomie durchsetzten. Indem Moral und ihre Anwendung auf charakteristische Prozesse der Moderne bezogen werden, kann das Projekt Verrechtlichung und Moralisierung als komplementäre Prozesse verbinden; die Ethnisierung rechtlicher und moralischer Normen im französischen Kolonialreich analysieren; das Nebeneinander von spekulativem Handeln und Spekulationskritik beleuchten; und die soziale Offenheit eines illegalen, aber geduldeten Marktes untersuchen, dessen informelle (Selbst-)Regulierung so funktional erschien, dass sie legalisiert wurde.

Ökonomische Moral erscheint so weder als Überbleibsel einer älteren Gesellschaftsformation, einer moral economy, noch als Zukunftsversprechen einer utopischen, postkapitalistischen Wirtschaftsform. Vielmehr ist Moral ein integraler Bestandteil des Kapitalismus und damit der Moderne.

Bildnachweis: Edgar Degas, Portraits à la Bourse, Studie, ca. 1878–79 [Public domain: CC0 1.0], Metropolitan Museum of Art, http://www.metmuseum.org/art/collection/search/436154

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Jürgen Finger ist Mitglied eines Wissenschaftlichen Netzwerks der DFG: »Moral und Ökonomie. Normativität und Wirtschaftshandeln im langen 20. Jahrhundert: Wissen, Dinge, Praktiken«.