Vernetzte Individuen: eine Wissens- und Kulturgeschichte sozialer Konnektivität, 1890–1940
Soziale Netzwerke scheinen nicht nur in der Gegenwart allgegenwärtig: Auch die Geschichtswissenschaft hat sie jüngst fleißig zu allen Zeiten und an allen Orten ausfindig gemacht. Dabei bleibt die Geschichte von Konnektivität als historische Wissens- und Imaginationsform – das Denken in Form von Netzen, Geflechten und Verbindungen – geschichtswissenschaftlich bisher weitgehend unerforscht.
Dieses Forschungsprojekt fragt, warum, wie und mit welchen Konsequenzen Menschen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Gesellschaft, in der sie lebten, als Verknüpfung von Individuen imaginierten.
Die Ausgangsbeobachtung ist: Konnektivitätsdenken war nie deskriptiv, sondern in hohem Maß normativ und politisch. Es antwortete auf krisenhafte Modernisierungserfahrungen, ausgelöst etwa durch die Dynamisierung grenzübergreifender Prozesse, die Infragestellung traditioneller Sozialitätsformen wie Dorf oder Familie, oder die drängende Komplexität des Großstadtlebens. Verbindungen konnten hier in einer charakteristischen Ambivalenz entweder als Ursache oder als Lösung konzipiert werden: Über Konnektivität wurde im Wechselspiel zwischen euphorischen Utopien vernetzten Zusammenlebens einerseits, und Ängsten vor der zersetzenden Kraft unsichtbarer Verbindungen andererseits nachgedacht.
Dieses ambivalente Denken war selbst ein transnationales Phänomen und soll im Zuge des Forschungsprojekts in heterogenen deutsch- und französischsprachigen Quellen von den 1890er bis in die 1930er Jahre nachvollzogen werden. Soziale Konnektivität wurde in sozialwissenschaftlichen Texten, Spionageliteratur, Verschwörungstheorien und radikal-reformistischer Programmatik thematisiert. Ziel ist es, Überschneidungen zwischen diesen unterschiedlichen Bereichen herauszuarbeiten und damit die Entstehung einer ambivalenten Kultur der Konnektivität greifbar zu machen.
Die Untersuchung entwickelt damit erstens eine neue Perspektive auf die politische Kulturgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie interveniert zweitens aber auch in einer selbstkritischen Debatte über die historiographische Analysesprache, in der in den letzten Jahren vermehrt ein reflektierter Umgang mit Kategorien wie »Netzwerk« angemahnt wurde.
Bildnachweis: Pierre Roche, L’espionnage allemand, Paris 1917, © gallica.bnf.fr / BnF