Forschungsprojekt

Vergemeinschaftung durch Wissen – Das universitäre Imaginär und die Entstehung der Universität von Paris (12. bis 13. Jahrhundert)


Die mittelalterliche Universität von Paris gilt als eine tragende Säule der europäischen Universitätsentstehungen. In der Meistererzählung des »Aufstiegs des Westens« steht diese Bildungseinrichtung am Anfang einer aufgeklärten Wissensgesellschaft. In der Forschung wird allgemein angenommen, sie sei ab 1200 mit einer Reihe von Diplomata ins Leben gerufen worden. Diese Sicht auf die Universitätswerdung von Paris spiegelt eine verfassungsgeschichtliche Forschungstradition wider, deren Wurzeln sich ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, und die veraltete Paradigmen besagter Meistererzählung weiterträgt.

Die mittelalterliche Universität von Paris gilt als eine tragende
Säule der europäischen Universitätsentstehungen.

Erweitert man diese diplomatische Quellengrundlage der frühen Universität, gerät eine gattungsübergreifende Überlieferung ins Blickfeld, in der die Universitätsmitglieder bereits vor 1200 ihre Spuren hinterlassen haben. Die Pariser Schullandschaft des 12. Jahrhunderts gestaltete sich heterogen und bestand aus Kathedral-, Stifts- und Klosterschulen sowie vermeintlich institutionsungebundenen »freien« Magistern. Dabei wirkten die Pariser Magister und Scholaren über die Mauern ihrer Kommunitäten hinaus, womit sich ein kommunitätsübergreifender Kommunikationsraum eröffnete. Diese Quellenbeobachtungen werden von aktuellen Studien der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte flankiert, die dafür plädieren, die Universität als Bildungseinrichtung konsequent zu historisieren und die Universitätsmitglieder als Teil der Stadtgemeinschaft zu betrachten. In der Zusammenschau dieser Studien wird der multidimensionale Charakter dieser Institution deutlich, der weit über die Rechtsfigur der universitas hinausreicht. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine altbekannte Frage neu stellen: Wie entstand die Universität von Paris?

Das Projekt untersucht die Entstehung der Universität von Paris erstmals als einen Vergemeinschaftungsprozess und nimmt das lange 12. Jahrhundert als Ausgangslage. Nicht zuletzt damit wird der Kontingenz dieser Universitätswerdung Rechnung getragen. Die Untersuchung neuaufkommender sozialer Praktiken mit Symbolgehalt erklärt, wie sich ein neuer sozialer Raum innerhalb der Stadt auftat und sich gestaltete. Hierzu ergründet eine auf Grundlagen wissenssoziologischer Theorien eigens erarbeitete Heuristik das Phänomen »Universität«, indem Momente verdichteter Kommunikation auf eine Trias aus Gemeinschaft, Diskurs und Wissensverwaltung auf ihre Wechselwirkungen hin befragt werden. Damit reagiert das Projekt angemessen auf ein neues Institutionsverständnis der Mediävistik, wonach die Universität als kulturelles Konglomerat sozialer Praktiken neu gedacht werden muss. Jene sozialen Praktiken gilt es in ihren Anwendungskontexten aufzuspüren und unter Berücksichtigung ihrer vergemeinschaftenden Kraft auf emergierende Strukturen der werdenden Universität zu untersuchen. Es ist zu erforschen, wie sich diese Strukturen mit der Zeit dem Zugriff des Einzelnen entzogen und damit zwar formbar, aber in ihren Grundzügen institutionell verankert wurden. So lassen sich grundsätzliche Aussagen über Institutionalisierung im ausgehenden Hochmittelalter treffen, womit das Projekt anschlussfähig für vergleichende Studien sein wird.

Bildnachweis: Bibel des Manerius, Entstehung 1180–1199 (um 1185-1195), 525 x 360 mm, 302 S, Troyes, Abtei Saint-Loup (?), Frankreich, Paris, Bibliothèque Sainte-Geneviève (Digitalisat Bibliothèque virtuelle des manuscrits médicaux)