11.04.2022

Online und vor Ort: Staatsbürgerschaft: Norm und Praxis politischer Zugehörigkeit in Europa, 1914–1945

Die Podiumsdiskussion diskutiert Phänomene von Zugehörigkeit und Ausschluss und die Diskrepanz zwischen rechtlicher Norm, politischer Ausgestaltung und administrativer Praxis.

  • Podiumsdiskussion 20. und 21. Jahrhundert
  • 18:00 Uhr (11.04.) - 20:00 Uhr (11.04.)
  • DHIP

Seit dem 19. Jahrhundert hat Staatsbürgerschaft als Rechtsinstitution die europäischen Gesellschaften nachhaltig geprägt: Sie kennzeichnet die Zugehörigkeit zu einem Staat und spielt eine zentrale Rolle bei der Herausbildung der modernen Nation. Bis heute entscheidet sie über den Platz des Individuums, verschafft ihm Zugang zu sozialen Rechten, gesichertem Aufenthalt und politischer Mitsprache, und vermittelt ihm zugleich auch Pflichten. Unbestreitbar erlebte Staatsbürgerschaft im 20. Jahrhundert und besonders mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg eine fundamentale Transformation, als Kriterien von nationaler Zugehörigkeit von Grund auf neu gefasst, Einbürgerungspraktiken ausdifferenziert und Bürokratien ausgebaut wurden.

Lange Zeit wurden Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft aus ideengeschichtlicher Perspektive betrachtet, die Herausbildung von Rechtsnormen und Institutionen wurde nach einem fast idealtypischen Schema zwischen den Polen westlich-universalistischer und ethnischer Tendenzen gedeutet. Inzwischen wird Staatsbürgerschaft stärker im Hinblick auf die institutionelle Ausgestaltung interpretiert sowie als Produkt komplexer Aushandlungsprozesse im Kontext wechselnder sozialer Realitäten. Staatsbürgerschaft war oft Ausdruck sozialer Hierarchien: Die damit verknüpften Rechte variierten entlang geschlechtlicher, ethnischer, kolonialer und politischer Trennlinien. Zugleich geraten der Zugang zu Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft genauso in den Blick wie historische Umwälzungen und Zäsuren, die zu deren Verlust und zur Ausbürgerung führten.

Die Podiumsdiskussion geht dieser Geschichte nach, die sich sowohl vom Einzelfall her, in mikrogeschichtlicher Perspektive als auch aus transnationaler Perspektive erzählen lässt. Wir diskutieren Phänomene von Zugehörigkeit und Ausschluss und die vielfach zu beobachtende Diskrepanz zwischen rechtlicher Norm, politischer Ausgestaltung und administrativer Praxis in West-, Mittel und Osteuropa. Ein Schwerpunkt liegt auf der institutionellen Neufassung von Staatsbürgerschaft und Einbürgerung während der Zwischenkriegszeit bis circa 1945: Hier wurden Grundlagen gelegt für die Ausbürgerungen, die in Polen und der Tschechoslowakei in den 1930er Jahren und in Frankreich unter dem Vichy-Regime in großem Stil stattfanden.

Was lässt sich über das Verständnis der Zeitgenossen von Nation, Nationalität und Staatsbürgerschaft lernen? Wie stand es um die (rechtliche) Stellung von Frauen? Lassen sich aus transnationaler oder globalhistorischer Perspektive das Phänomen Staatsbürgerschaft, seine komplexen Ausgestaltungen und Änderungen besser verstehen? Welche Einflüsse aus dem kolonialen Raum sind zu beobachten, der vielfach wie ein Laboratorium wirkte? Wie steht es um die Wahrnehmung der Betroffenen, welche Strategien zur Legitimierung und zum Schutz der (eigenen) Staatsangehörigkeit nutzten sie?

Podiumsdiskussion in deutscher und französischer Sprache.

Diskutanten: Dieter Gosewinkel (Berlin), Michal Frankl (Prag), Claire Zalc (Paris)
Moderation: Axel Dröber (DHIP)

Anmeldung für eine Teilnahme vor Ort: event@dhi-paris.fr
Anmeldung für eine Online Teilnahme: Zoom

Bildnachweis: Junge Geflüchtete, zurückgekehrt nach Evian [vor dem Bahnhof], 1917, © Agence Rol, Quelle: Gallica, Bibliothèque nationale de France.