Mittelalter

Forschungsprojekt

Frühmittelalterliche Reliquienauthentiken. Eine exklusive Überlieferungsform in Literatur, Schrift und Kultur

Abteilungsleiterin Mittelalter

kwallenwein@dhi-paris.fr


Authentiken sind eine besondere Form der schriftlichen Überlieferung, die am Übergang der Antike zum Mittelalter entstand. Als Zertifikate, mit denen Reliquien beschriftet wurden, bezeugen sie deren Verehrung, veranschaulichen die Entwicklung von Schrift und Sprache und belegen Kontakte zwischen Kulturzentren.

Ziel des Habilitationsprojekts ist die systematische Sammlung und Auswertung der lateinischen Zeugnisse bis zum 9. Jahrhundert und damit eine über den Lokalbestand hinausgehende vergleichende Untersuchung. Im Rahmen der Projektarbeit im Sonderforschungsbereich 933 »Materiale Textkulturen« konnte bereits ein umfangreiches Materialcorpus zusammengetragen werden. Dieses soll gegen Ende des Habilitationsverfahrens in Kooperation mit der Universitätsbibliothek Heidelberg als digitale Plattform veröffentlicht werden.

Dr. Kirsten Wallenwein bezieht die Herkunft der Reliquien ebenso wie die Lokalisierung der schrifttragenden Artefakte in ihre Untersuchung mit ein. Letztere konnten entweder am Entnahme - oder (ursprünglichen) Bestimmungsort der Reliquien beschriftet werden. Sprachgeschichtliche Ergebnisse sind ebenso zu erwarten wie paläographische Erkenntnisse zu einzelnen Regionalstilen, da die Überlieferungsträger oft über die Jahrhunderte hinweg geschützt vor äußerer Einwirkung im Reliquiar überdauerten. Überdies werden Fragen nach der Materialität und dem Format des Dokumententyps gestellt. Wurden Authentiken beglaubigt? Und wenn ja, ab wann und in welcher Form? Wie hat sich diese im Laufe der Zeit entwickelt? Um diese Fragen zu beantworten, unternimmt Wallenwein vergleichende Ausblicke bis ins Spätmittelalter. Das gilt gleichermaßen für das, was auf den Authentiken geschrieben steht. Diese Protokolle reichen von der bloßen Etikettierung im Genetiv oder Dativus possessivus über formelhafte Wendungen wie hic sunt reliquias/reliquies/reliquiae … (»Hier sind Reliquien … «) bis hin zu ausführlicheren Biogrammen oder aber den späteren Echtheitszertifikaten. Mithilfe jüngerer Zeugnisse werden unterschiedliche Rezeptionspraktiken aufgezeigt und die Überlieferungsgeschichte ausgewählter Stücke nachgezeichnet (Zweitanfertigung, Inventarisierung).

Wurden Authentiken beglaubigt? Und wenn ja, ab wann und in welcher Form? Wie hat sich diese im Laufe der Zeit entwickelt? Um diese Fragen zu beantworten, unternimmt Wallenwein vergleichende Ausblicke bis ins Spätmittelalter.

Neben der skizzierten Grundlagenforschung sollen Austauschphänomene und Kulturkontakte stärker in den Blick genommen werden: Woher stammen die jeweiligen Reliquien einer Institution? Waren die Heiligen am Ort bekannt, oder musste man sich erst mit der nötigen Literatur ausstatten (lassen)? Folgende Quellen werden exemplarisch in die Untersuchung einbezogen: Reliquienverzeichnisse (als Einzelüberlieferung oder in unterschiedlichen Buchtypen wie Evangeliaren, Kopialbüchern oder Chroniken), Viten und Passionen, Mirakel-, Inventions- und Translationsberichte sowie Codices domestici, welche die vorhandene Literatur zu den jeweiligen Hausheiligen vereinen.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Zusammenhänge zwischen Reliquienerwerb, Literaturbeschaffung und kultischer Verehrung der heiligen Hinterlassenschaften. Reliquienüberführungen (translationes) von einem Ort an einen anderen lassen sich wesentlich öfter durch Authentiken als durch historiographische oder literarische Zeugnisse belegen. Haben sie Einfluss auf das Verfassen von Versen? Entstehen später gar liturgische Dichtungsformen wie Sequenz, Tropus und Offiziendichtung anlässlich einer (durch Authentiken dokumentierten) Reliquientranslation? Translationsberichte entspringen dem Geist der frühmittelalterlichen Reliquienverehrung. Ihnen liegt das Bedürfnis zugrunde, über ein Reservoir für die Lektionen eines Festtages zu verfügen. In makroskopischer Perspektive sind liturgiegeschichtliche Erkenntnisse zur Entwicklung dieser Subgattung zu erwarten, die nur in gemeinsamer Auswertung mit den Reliquienauthentiken erzielt werden können; in Kombination wird eine hagiographische Literaturlandschaft sichtbar.
 

Bildnachweis: Frühmittelalterliche Inventarauthentik mit Mainzer Schriftheimat (saec. VIII²/um 800), © Dom- und Diözesanarchiv Mainz, Best.: U 1 Nr.: 15 a (Reliquienauthentiken). Nachdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Dom- und Diözesanarchivs Mainz